Vogel mit Licht

Die WG

Ein Wittern setzt ein, ein Stutzen: Etwas ist anders als sonst. Es ist der Luftzug, er kommt von rechts, er müsste von links kommen. Ihre Augenlider geben widerwillig den müden Blick frei, doch die erwarteten Konturen des Raumes stellen sich nicht ein, sie sieht nicht das, was sie sehen sollte. Erschreckt hebt sie den Kopf und sieht sich um: Es ist ihr Schlafzimmer. Aber nichts ist, wie es war: Jemand hat umgeräumt, die Wände neu gestrichen. Orange! Sie lässt sich zurückfallen, zurück auf ihr weiches Kopfkissen, bezogen mit der gestreiften Bettwäsche, wenigstens die kennt sie.

Doch zum Verweilen bleibt keine Zeit, sie schlägt die Bettdecke zurück, richtet sich auf, stellt die Füße mit Schwung auf den kleinen Teppich. In ihrem Kopf dreht es sich, sie verharrt auf der harten Bettkante. Der Schwindel lässt nach.

Auf dem Weg in die Küche gibt es nur ein Ziel: einen Kaffee, eine Zigarette. Im Flur stößt sie auf ein Hindernis, ihr Knie schlägt gegen die Kante eines Regals: Wo sonst alles frei war, nehmen plötzlich in dem schmalen Flur hohe Bücherregale die ganze Wandseite ein. Kurz ins Schlingern gebracht, fängt sie sich wieder, steuert wackelig die Küche an.

 

Dort scheint alles beim Alten. Die gewohnten Handgriffe machen sich von allein, das Röhren der kleinen Mühle ist vertraut, der Geruch der Kaffeebohnen bringt ein wenig Ruhe ins Hirn. Sie tritt hinaus auf den Balkon, stellt den heißen Kaffeebecher ab, zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen ersten Zug, die Augen fast geschlossen.

Von Nikotin und Kaffee zusammengefügt, lässt sie den Blick über den weiträumigen Hinterhof schweifen. Die großen Bäume gegenüber sind halb kahl, die Blätter braun. Sie runzelt die Stirn: Was ist mit den Ulmen geschehen? Sind sie über Nacht eingegangen an dieser Krankheit, die die Blätter schon im Sommer welken lässt? Es fröstelt sie, die Luft ist kühl. Es riecht nach Herbst.

Das kann nicht sein. Sie hatte sich am Vortag todmüde ins Bett gelegt. Es war warm! Sie hatte kurze Jeans getragen, ein leichtes Sommerhemd, mittags im Sekretariat ihre Diplomarbeit abgegeben, die Nacht davor durchgemacht, um alles zu schaffen: Dreißigster Juni, Abgabetermin. 

Gestern. 

Gestern?

Sie stellt den Kaffeebecher ab, läuft durch den Flur zurück ins Schlafzimmer, wirft einen Blick nach unten auf die Straße: Blätter wirbeln auf und fliegen durch die Luft. Die Menschen draußen tragen lange Hosen, sie haben Jacken an, oder Mäntel, mit hochgezogenen Schultern schützen sie sich vor dem scharfen Wind. Das Licht ist blass, der Himmel bedeckt, die Geräusche der Straße klingen nicht nach Sommer. Einen Moment bleibt sie ratlos am Fenster stehen, wohin sie auch blickt, es ist Herbst. 

Wo ist die Zeit geblieben?

Hastig zieht sie sich an: T-Shirt, Jeans, Turnschuhe, Lederjacke. 

Sie läuft die vier Etagen hinunter auf die Straße, und dann in schnellem Schritt zum Kiosk um die Ecke. Die Kioskfrau ist noch dieselbe:

„Moin! Lange nicht dagewesen! Wo haste denn gesteckt?“

„War verreist.“

Die Kioskfrau schiebt ihr das Übliche über den Tresen: ein Päckchen Tabak, ein Brötchen, die Tageszeitung. Oben rechts steht das Datum: zwanzigster Oktober. Die Zeitung klemmt sie unter den Arm, sie hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen.

Herbst also. Na gut. Unbequeme Fragen nach dem Verbleib des Sommers nähern sich ihr in konzentrischen Kreisen und verschwinden unbeachtet. Es gibt Wichtigeres: Der Status Quo einer unvermittelt eingetretenen Gegenwart muss durchgecheckt, Kontrolle dringend ergriffen werden.

Vor ihrem Haus angekommen, ist es beinah wie immer: Zeitung, Tabak und Brötchen sind Beweise eines normalen Alltags, sie fühlt sich einer erneuten Begegnung mit ihrer Wohnung gewachsen.

Oben angekommen, inspiziert sie die Räume: Verändert ist alles, außer der Küche. Kritisch überprüft sie die Qualität der durchgeführten Arbeiten: Bis auf die orangefarbenen Wände geht alles durch. Ein Anstrich war ohnehin fällig, sie würde sich an die Farbe gewöhnen oder an einem Wochenende neu streichen. Apropos Wochenende, was ist mit ihren Jobs?

Panik flutet hoch: Ist noch Geld auf dem Konto, wurde die Miete bezahlt, ist Essen da? Sie reißt den Kühlschrank auf und weicht zurück: Bestialischer Gestank schlägt ihr entgegen, die Fächer sind randvoll. Mit spitzen Fingern zieht sie eingeschweißte Packungen Leberwurst, Bierschinken, Schinkenspeck aus dem mittleren Fach, gefolgt von einer Partypackung Bratwürsten und anderem Grillgut aus dem unteren Fach, ausreichend für eine Feier mit 10 Personen. Sie überprüft das Ablaufdatum: Vorne stapeln sich die noch haltbaren Fleischlappen, grünlich schillern aus der zweiten Reihe die vor drei Monaten eingeschweißten Steaks. Der Geruch von altem Tilsiter zieht in ihre Nase, igitt, wer isst denn sowas?

Sie stößt die Balkontür auf, der Gestank ist nicht zum Aushalten. Mit einem Fuß hält sie den Mülleimerdeckel hochgeklappt: Alles kommt weg. Es folgen Scheibletten, Käseecken in runden Schachteln, fünfmal grüne Götterspeise, dreimal roter Wackelpudding, achtmal Vanillepudding. Diverse Pizzen im Gefrierfach, die meisten abgelaufen, zwei angebrochene Gläser mit Wiener Würstchen stehen in der Kühlschranktür. Ein Müllbeutel reicht nicht aus, es werden vier. Wie besessen schrubbt sie den leeren Kühlschrank, bis er nur noch nach Putzmittel riecht, die Flächen stumpf vor Sauberkeit.

Ihr wird flau, ganz taumelig im Kopf, das Leben droht außer Kontrolle zu geraten. Essen muss her: Für Eine, die gehungert hat, ist es von existenzieller Bedeutung und verlangt nach sofortiger Erfüllung.

Sie muss sich einen Überblick verschaffen: Was ist auf dem Konto, was ist mit ihren Jobs? Ein erneuter Blick auf die Zeitung verrät ihr: ein Dienstag also. Inzwischen ist es elf Uhr. Dienstags, donnerstags und freitags geht sie nachmittags putzen, montags und mittwochs hat sie den Job bei der Zeitschriftenkorrektur. Sie findet das kleine Notizbuch mit den Telefonnummern in der Innentasche ihrer Lederjacke. Da gehört es hin.

Für die Anrufe bei ihren Arbeitgebern muss sie Anlauf nehmen, mit zittrigen Fingern tippt sie die Telefonnummer von Hanno ein, der würde keinen Ärger machen. Sein Freund nimmt ab: „Ja?“

„Hi. Hier ist Berit.“

„Moin. Ich mache gerade Klarschiff, gleich wird das Bett abgeholt, dann kommt jemand, der sich die Bücher anguckt“. Sie schluckt. Hanno ist tot? Das ist aber schnell gegangen.

„Bist du gut nach Haus gekommen? Warst fertig, oder? Ist ja auch scheiße alles.“

„Ja, verdammt beschissen. Und du, wie geht´s dir heute?“

„Wie soll´s mir schon gehen? Ich mach´ hier alles klar. Wegen der Trauerfeier sag ich dir Bescheid, dauert noch. Du kommst doch, oder?“

„Klar. Sag Bescheid.“

Sie wird nicht hingehen. Sie geht nie zu Trauerfeiern, Abschiede sind nichts für sie, an Abschieden hängen Verluste. Schnell schluckt sie runter, was schon auf dem Weg nach oben war: ein schmerzhaftes Ziehen, Tränen womöglich. Hanno ist gestorben. So schnell.

Sie geht auf den Balkon, eine rauchen, sich wieder in den Griff kriegen; weitere Telefonate stehen an, sie braucht die Jobs. Die weiteren Anrufe gelingen problemlos, für den Rest der Woche meldet sie sich krank. Alle wünschen gute Besserung, niemand beschwert sich über nicht eingehaltene Arbeitszeiten.

Sie braucht eine weitere Zigarette, einen weiteren Kaffee, bevor sie den Gang zur Sparkasse wagt. Das Ab-schließen der Haustür bereitet ihr Mühe, die Hände gebärden sich unzuverlässig, nesteln am Schloss herum, treffen daneben. Sie flucht. Als es geschafft ist, merkt sie, dass auch ihre Beine zittern, sie fühlen sich an wie Wackel-pudding. Den muss sie neu einkaufen. Wenn Geld auf dem Konto ist. Im Treppenhaus hält sie sich am Geländer fest, die sperrigen Müllsäcke schlagen gegen ihre Beine, sie konzentriert sich darauf, nicht zu stolpern. Aus der Mülltonne im Hof schlägt ihr süßlich-dumpfer Geruch entgegen, sie hievt mit Schwung den Abfall hoch und lässt ihn in den Container fallen.

Auf der Straße sieht sie sich um, es ist immer noch Herbst. Ihre Füße machen sich auf den Weg, automatisch, einen Schritt vor den anderen. Die Angst vor einem leeren Konto nimmt ihr die Luft: Kaum, dass sie atmet, kaum, dass der Körper zu ihr gehört. In der Halle wartet sie auf einen freien Automaten für den Kontoauszug, biegt unruhig die Plastikkarte zwischen ihren Fingern. Endlich ist sie dran. Sie starrt auf den blinkenden Cursor, auf das blanke Feld für die Pin, ihr fällt die Nummer nicht ein. Drei Versuche scheitern, sie muss zum Schalter. Zum Glück hat sie den Ausweis immer dabei. Die Person auf dem Foto scheint nicht annähernd verwandt mit ihr zu sein, aber es reicht aus, den Kontostand zu erfahren.

„Möchten Sie auch gleich abheben?“ Der Kassierer wartet.

Die freundliche Frage und die Erleichterung über den Kontostand haben sie aus dem Konzept gebracht. Ja, auf jeden Fall will ich abheben.

„Junge Frau, wollen Sie abheben?“

Sie schreckt auf: „Ja! Siebzig Mark bitte, in Zehnern“. Sie fasst sich wieder, scherzt mit dem Kassierer über den frühen Einbruch des Herbstes. Erleichtert verlässt sie die Sparkasse. Alles im grünen Bereich, die Miete wurde bezahlt, die festen Posten sind abgebucht und es ist noch genügend Geld auf dem Konto. Ihr kann soweit nichts passieren.

Mit dem frisch gefüllten Geldbeutel geht sie gleich einkaufen: Einkaufen, das liebt sie. Heute gibt es etwas Gutes, sie wird sich etwas Leckeres kochen.

Nach dem Essen liest sie zum Kaffee die Zeitung. Im Wesentlichen sind die Nachrichten wie immer, die Welt hat sich nicht verändert. Um Freundinnen und Kommilitoninnen wird sie sich später kümmern.

Zuerst muss sie herausfinden, was sich zwischen Juni und Oktober in ihrem Leben abgespielt hat.

Die Geschichte fing damit an, dass ich Trottel meinen Einsatz verpennt habe.

Also das kam so: Der Typ, bei dem ich geputzt habe, ist gestorben. An Aids. Als klar war, jetzt isses so weit, der stirbt, bin ich gleich dageblieben. Zusammen mit seinem Freund. Der Typ, also Hanno jetzt, der mit dem Aids, war noch keine dreißig. Der war echt nett, voll lustig und so. Keiner, der ewig schlechte Laune hat und einen schikaniert. Bin ich echt gerne hingegangen, war cool mit ihm.

Und dann kam der Schocker. Das Bild hab´ ich immer noch in der Birne. Der ist dann zwar gestorben, aber nicht allein. So hab ich noch nie einen sterben sehen. Noch nie.

Sein Freund hat ihn im Arm gehalten. Bis zuletzt.

Ich weiß nicht, was mehr ´reingeknallt hat: das Sterben oder das Halten. Komisch, oder? Hab´ aber nicht geheult, das nicht. Ist nicht so meins mit dem Geflenne.

TOM

Und dann kam der Arzt. Mann ey, wir wussten auch so, dass Hanno übern Jordan war, dazu braucht man echt kein Arzt sein. Und dann war da son Schlipsträger in Schwarz, der hat ihn mitgenommen. Entsorgt. Wie Schrott, nur ohne Recycling. Kommt in son Ofen, wird Asche, passt dann in eine Brötchen-tüte. Darüber kann man schon mal ins Grübeln kommen. Und, wisst ihr was? Manche denken: Das wars dann, mehr gibs nich, Seele und so. Das ist echt putzig, darüber könnte ich mich jetzt mit Hanno totlachen. Na ja, wenn er noch da wäre.

Die Woche, bevor er abgenippelt ist, haben wir noch Witze gerissen, Hanno und ich. Von wegen, ob er wohl in den Himmel kommt. Das fand er öde, zum Sterben langweilig. Was haben wir gelacht! Aber Hölle fand er auch nicht prickelnd: kannte er schon.

Hat echt Spaß gemacht, habe immer um ihn herum geputzt und hatte was zu blödeln. Dann gings auf einmal ganz schnell, bisschen Schnupfen, Fieber, Lungenentzündung. Das wars. Paar Tage und weg war er. Fix und alle bin ich nach Hause. War echt fertig. Gleich ins Bett gefallen, wollte nur noch schlafen.

Bin dann aufgewacht, weil BLUE wie am Spieß gebrüllt hat. Direkt an meinem Ohr. Scheiße, kann die laut schreien! Ich dachte als Erstes, jetzt hat die Kleine echt `n Rad ab, jetzt isses soweit. Die hat getobt und gebrüllt, hat immer dasselbe geschrien: Meine Puddings, meine Puddings, die schmeißt meine Puddings weg!

Ich bin mit einem Satz hoch, war wach wie sonst nur nach drei Tassen Kaffee, aber stark. Das war man auch gut so, weil BLUE jetzt komplett abdreht is. Die hat gezittert, als ob sie `n Finger in der Steckdose hat.

BLUE ist so was wie meine kleine Schwester. Musste sehen, wie ich sie wieder runterkriege, die steckte in `ner first class Panikattacke, aber hallo: Marke ´no exit`. Hab sie mir untern Arm geklemmt wie `n verschnürtes Paket, und sie ganz doll festgehalten. Hat erst gezappelt wie verrückt, dann langsam geschnallt, wo sie ist.

Dann musste ich erstmal peilen, was los war. Bin zu MIKE geschlurft, mit der Lütten unterm Arm, hab mich neben ihn aufs Sofa fallen lassen. Der wusste schon, was Sache ist:

Die Alte ist wieder da.



 

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